Wir sind mitten im Klettersteig Via Ferrata Les Rois Mages, ich stehe bereits am Scheideweg, denn unmittelbar vor der zweiten von insgesamt drei Brücken gibt es einen Angsthasenausstieg.
Jörg kämpft sich noch an die Brücke heran – schon bis hierher wurden durch die überhängenden Querungen und Aufstiege die Unterarme stark beansprucht, die zusätzliche Standschlinge ist mehr als einmal beim Umklinken nützlich. Aber am Besten läßt man sich nicht all zu viel Zeit beim Durchsteigen der schweren Abschnitte und ruht aus, wenn man mal auf einem U-Eisen einen etwas komfortableren Stand hat. Auch am Beginn der Brücke gibt es keinen Ausruhstandplatz und hat man den Fuß einmal auf der mehr als 20 m langen zweiten Brücke mit dem Namen „Balthazar“, dann fängt diese sofort an zu schwingen.
Wer hier gar keine Reserven mehr hat, sollte über einen Ausstieg nachdenken, wer wenig Reserven, aber noch Willen hat, der möge es wenigstens nicht mir nachmachen und noch zusätzlich hier fotografieren wollen. Denn das kostet jede Menge Mut und Kraft.
Ich warte nicht auf Jörg, denn wie gesagt, es gibt keinen vernünftigen Stand und eigentlich will ich diese Brücke auch einfach nur hinter mich bringen. Ich gebe es gern zu, auch ich hatte doch nicht nur Respekt, sondern auch etwas Herzklopfen beim Anblick dieser äußerst langen Brücke vom Typ Pont de Singe – nur 1 Seil für beide Füße und eines für beide Hände und zugleich die Sicherung.
Die Sicherung nimmt man am Besten zwischen beide Hände, so kann die linke Hand sich zentimeterweise vortasten und die rechte schiebt die Sicherungen mit. Der Blick geht frei in die Luft – sprich in die Schlucht und nicht zur Felswand. Runter guckt man am Besten nicht, es geht tief, sehr tief runter, man schalte am Besten das Hirn komplett aus und gehe langsam und gleichmäßig hinüber, vermeide jegliches Ruckeln und versuche, das Wackeln bestmöglichst aus zu balancieren. Ich habe immer kurz inne gehalten und mit Druck auf die Arme versucht, es auszugleichen. Aber nicht zu viel, sonst geht das Handseil zu weit weg. Auf jeden Fall sollte man nicht vom Fußseil stürzen, man hängt sonst in der Luft und es sollte sehr schwer und vor allem überhaupt nicht lustig sein, wieder auf das Fußseil zu gelangen. Vom Wackeln dabei dann mal ganz abgesehen.
Ich habe weitgehend die Luft und die Gedanken angehalten und mich ganz langsam zur anderen Seite hinüber „geschoben“, gefühlt hat das eine kleine Ewigkeit gedauert, und nur zwei Mal habe ich den Kopf ein wenig zur Zielfelswand gedreht, nie zurück, denn ich wollte mich nicht entmutigen. Mit dem Blick mal nach Unten hatte ich paradoxerweise kein Problem. Vielleicht bin ich doch schon abgebrühter als ich dachte – dennoch, eigentlich hasse ich diese Teile. Andererseits setzen die eben jede Menge Adrenalin frei…
Welch Gefühl, wenn man auf der anderen Seite angelangt ist und spürt, dass man ja doch noch lebt! Ja tatsächlich, man spürt das Leben so intensiv wie sonst selten.
Mir gelingt es irgendwie bei aller Unvernunft, die in mir wohnt, einen Platz zum Fotografieren zu finden und Jörg noch auf der Brücke zu erwischen und obwohl ich gedacht habe, ich kann diese Bilder nur verwackeln, sind sie erstaunlich brauchbar geworden, um einen Eindruck von „Balthazar“ zu hinterlassen.
Wenn man genau hin schaut, erkennt man auch weite Teile des Wegverlaufs bis zur Brücke mit Anstieg, Querung, 2. Anstieg und Gegenquerung. Das Sicherungsseil ist schön erkennbar.
Auch Jörg wendet instinktiv die einzig richtige Technik für Normalos an. Nur Seilartisten gehen hier anders rüber, aber die brauchen dann auch kein Sicherungseil mehr.
Auch nach dem Überqueren der Pont de Singe kehrt kein Alltag ein, erneut muss überwiegend überhängig gequert werden, erneut werden die Unterarme gut beansprucht und gibt es keine Ausruhplätze über längere Abschnitte. Da ich das sehe, weise ich Jörg an, erst hinter mir her zu kommen, wenn ich ihn rufe. Folgt der Nachkommende im normalen Abstand, dann könnte er schnell den Vorausgehenden bedrängen, wenn wieder nur ein einzelnes U-Eisen zum Ausruhen da ist.
Und tatsächlich, ich muss erst bis zum Ende durchsteigen, vorher gibt es weder einen vernünftigen Rastplatz, noch einen Platz, von dem aus man Fotos machen könnte. Also gehe ich bis in die große Höhlung vor, wo dann tatsächlich ein Ausruhen auch für mehrere Personen zugleich möglich ist.
Beobachten wir dann von hier, wie Jörg sich heran arbeitet…
Schauen wir, wie es unter Jörgs Füßen aussieht…
Und während ich so die Szene beobachte, tut sich da unten im hinteren Felsen etwas…
… na das kommt ja richtig gut, von hier aus kann man sehr gut die nachfolgenden Klettersteiggeher beobachten, wie sie im wahrsten Sinne des Wortes in der Wand hängen…
…und selbst dabei wieder neue Kräfte schöpfen.