Ich bin inzwischen auf der anderen Seite der Brücke „Melchior“ angekommen, deren Länge offiziell mit 83 m angegeben ist (die Angaben in verschiedenen Publikationen schwanken zwischen 81 und 90 m). Jörg macht sich jetzt sogleich auf den Weg und ich kann noch mehrere weitere Leute im schweren Abschnitt zwischen der ersten und der zweiten Brücke beobachten – gegenwärtig drei an der Zahl.
Dass die Brücke wahrhaft hängt, sehen wir hier – sowohl auf als auch von der Brücke herunter muss man einen großen Schritt machen.
Auch der Blick in die weite Landschaft ist sehr schön – in der Felswand gegenüber kann man den Klettersteig Via Ferrata La Chemin de la Vierge erahnen. Eine Balkenbrücke ist gut zu erkennen – recht weit rechts am Beginn der kompakten Wand links oben im Bild.
Jörg kommt langsam anmarschiert und die drei Figuren weiter hinten bewegen sich nur langsam vorwärts.
Jörg kommt näher, die drei anderen scheinen nicht so recht vom Fleck zu kommen und neben dem Dritten unten taucht jetzt noch ein Vierter auf, der genau an der Kante „hängt“.
Jörg hat es gleich geschafft – hinten der Rote ist inzwischen aus dem Bild, aber unten wird es langsam eng. Während der Erste dort fast nicht vom Fleck kommt, rutscht der Nächste auf und ein Dritter kommt dort um die Kante. Die hängen bald wie die Fliegen aufeinander…
Jörg holt mit seiner Kamera die drei etwas heran – wir sehen, der Linke steht aufrecht auf einem der wenigen Ausruh – U-Eisen, das müßte die Stelle sein, wo auch ich von Jörg die ersten Fotos in der Querung nach der ersten Brücke gemacht habe, die anderen beiden haben zu arbeiten…
Auf meinem letzten Foto hier zur Via Ferrata Les Rois Mages erkennen wir jetzt noch einen vierten Mann genau auf der Kante. Das wird langsam wirklich kuschlig für die Gruppe da unten. Wir beobachten sie noch eine Weile – ganz so langsam sind wir nicht vorwärts gekommen. Ist schon interessant, aus sicherer Entfernung noch mal zu sehen, was wir da eigentlich gemacht haben…
Wir haben es geschafft. Und wir sind uns einig – das war DER Steig der gesamten Tour. Kurz, aber extrem knackig. Das Heroin unter den Klettersteigdrogen… Geht sofort ins Blut und knallt mächtig rein. Hier muss mit höchster Konzentration durchgestiegen werden, es braucht überdurchschnittlich viel Kraft und vor allem auch Kraftausdauer und all zu sensibel darf man nicht sein. Absolut nichts für Weicheier. Aber genial für Liebhaber, denn das, was hier an Adrenalin augeschüttet wird, reicht eine Zeit lang vor. Wir jedenfalls sind noch Stunden später wie gedopt. Die Psyche kommt voll auf ihre Kosten, das ist für jeden Klettersteigfan ein absoluter Muss-Steig. 20/20, was sonst…
Was die Schwierigkeitsbewertung angeht, die in den verschiedenen Publikationen zwischen D (difficile = schwierig) und TD+ (Tres difficile+ = Mehr als sehr schwierig) schwankt, so würde ich hier durchaus ein TD oder mindestens TD- geben. Wer andere Steige mit D oder D+ gegangen ist und dort seine Grenzerfahrung hatte, für den könnte dieser deutlich anspruchsvollere Steig ein Erlebnis der fatalen Art werden. Wer D+ gerne macht und zudem noch Reserven dabei hat, für den ist dieser Steig die Bereicherung.
Zum Machen und Wiedermachen…
Als ich Jörg frage, der völlig ausgepowert, aber total glücklich schaut, was er nun machen will, da gibt er eine gänzlich luxuriöse Antwort:“Nichts mehr!“